Ein ehrwürdiges Handwerk wie die Buchbinderei hat unzählige Wechsel, Umbrüche und Innovationen in seinen Technologien erlebt. Dabei entstanden Mythen, weil Jahrzehnte alte, in Generationen bewährte Werkstoffe, Maschinen oder Werkzeuge auf Nimmerwiedersehen im Buchbinder-Orkus verschwanden. Der eine oder andere Begriff geistert auch heute noch in manchen Köpfen, vor allem in solchen, die sich durch die Fachliteratur der frühen Jahre des 19. und 20. Jahrhunderts wühlen. So begegnete mir schon öfter der Begriff vom „Wiener Papp”.
Das war nach allem was ich las und in Gesprächen mit alten, erfahrenen Fachleuten erfuhr, ein spezieller Klebstoff, in erster Linie für Leder oder ähnliche Werkstoffe. „Wiener Papp” musste in seinen Anfängen vom Buchbinder selbst hergestellt werden. Bis in die Jahre nach dem 2. Weltkrieg konnte dieser vielgenutzte Kleber als Pulver oder Granulat käuflich erworben werden.
In „Wilhelm Leo's Buchbinderkalender von 1921” lese ich voller Staunen und mit einem gewissen Quantum Brechreiz, wie - so kurz nach dem Ende des 1. Weltkriegs - die Buchbinder den vielfach verwendbaren „Wiener Papp” selbst herzustellen hatten, allen damit verbundenen Schrecklichkeiten zum Trotze. Für die jüngeren Leser_innen sei's wiederholt: Die aktuellen Kaltleime und auch haltbaren BuBi-Kleister gab es damals noch nicht. Und der allerseits eingesetzte Warmleim aus tierischem Ausgangsmaterial musste auch gehegt und gepflegt werden. Heutzutage wäre es kein Problem, sog. Fischleim oder auch Hasenleim zu verwenden, denn diesen Leimen haben menschenfreundliche Chemiker den traditionell strengen Geruch abgewöhnt.
Zurück zum „Papp”. Ich zitiere Leo's Kalender, 1921, S. 158, 159. Viel Vergnügen!
»Eines der besten, wenn nicht das beste Klebmittel für Leder usw. ist der sogenannte Wiener- oder Schustrpapp, welcher in jeder Buchbinderartikelhandlung zu haben ist. Derselbe wird 5-6 Stunden in kaltem Wasser erweicht, sodann das übrige Wasser abgegossen und mit einem Stückchen Holz tüchtig verrührt, worauf er gebrauchsfähig ist.« Soweit die Version für den kapitalkräftigen Buchbinder. Nun folgt die Arbeitsanweisung für den sparsamen Selbstversorger:
»Man rührt Gerstenschrot mit heissem Wasser zu einem sehr dicken Brei an und fügt dann in immer kleineren Partien so lange heisses Wasser unter Umrühren hinzu, bis die Masse etwa auf 35-38 Grad Celsius erwärmt ist. Nach einigen Tagen beginnt die Gährung, wobei die Pappmasse ihre körnige Beschaffenheit allmählich verliert und eine gleichmäßige, bräunliche Masse bildet. Um den widerlichen Geruch, welcher sich bei der Gärung des Papps entwickelt, unschädlich zu machen, wird ein einfaches Mittel angegeben, das vortreffliche Dienste leistet.«
Nun kürze ich ab und schildere mit eigenen Worten, wie der Behälter, in dem die Gährung stattfindet, mit einem speziellen Deckel versehen wird, in dem eine Ofenpfeife eingesetzt wird, welche mit dem Ofenrohr des Werkstattofens mit offener Befeuerung verbunden ist. So konnten trickreich die unsäglich stinkenden Gärungs- und „Faulgase von den „Feuerungsgasen fortgerissen werden”.
Schlussbemerkung von einem, der sich liebend gerne mit verflossener Technik und vergessenem Material befasst und daraus schon viele nützliche Anregungen für den Amateur destilliert hat. Mein alter Buchbindeguru, der hochbetagte Karl-Heins Krons, wurde noch in den später 30er Jahren als Praktikant einer ehedem sehr bekannten Buchbinderei in Köln einmal monatlich mit den Lehrlingen in den Hof gescheucht. Dort warteten ein paar alten Bütten mit Kleister-/Leim-Wasser und eine alte Presse, um die angefallene Makulatur der Werkstatt zu „Pappe” zusammenzumatschen, äh, Verzeihung, zu pressen. Im Mittelalter und bis zur Erfindung der gegautschten oder gegossenen Pappe, nannte sich das, wissenschaftlich dokumentiert - „Steinpapier”. Heute wundert es mich nicht, dass beim Befeuchten manch alter Pappe dieser ein nervtötender Stank entweicht. Soviel für heute von einem zu Recht verschwundenen mytischen „Buchbinder-Klebstoff”.